Menschenfurcht oder Gottesfurcht?
Vor vielen Jahren hatte ich einen Sitzplatz ergattert in einem überfüllten Stadtbus in St.Gallen. Es war eng und laut. Mir gegenüber sass eine kleine, schmale Frau mit eng anliegendem Kopftuch, sie war vielleicht Anfang 30, neben ihr ihr Mann und stehend im Gang ein junger Teenie, der zu ihnen gehörte.
Plötzlich hatte ich den starken Impuls: „Sage dieser Frau, sie sei schön“. Ich schaute sie nochmal an: Schön hätte ich sie nicht bezeichnet, ich sah ja nur ein Gesicht, ein akkurat gebundenes einfarbiges Kopftuch sodass kein Haar hervorschaute und unauffällige Kleidung. Und sie schaute mit grossen Augen traurig in die Welt. Ja doch, zwar nicht offensichtlich, aber sie war irgendwie auch schön. Mir war klar, dass dieser Impuls nur von Gott sein konnte. Und ich sollte ihr jetzt sagen sie sei schön? In diesem Lärm und mit Mann und Teenie nebenan? Wie sage ich das? „Ich glaube an Gott und habe den Eindruck, ich soll ihnen sagen, dass sie schön sind?“ Und wenn sie mich nicht versteht und ich es lauter sagen muss? Und die anderen rundum es dann auch hören? Was denkt sie dann von mir, ist die Aufmerksamkeit ihr vielleicht auch peinlich? Ich hatte ganz viele ABER.
Ich überlegte es mir hin und her, bis sie ausstieg und ich immer noch nichts gesagt hatte. Ich schämte mich, dass ich mich nicht überwunden hatte. Ich hatte mehr Menschenfurcht als Gottesfurcht.
Menschenfurcht zeigt sich zum Beispiel, wenn ich nicht kommuniziere, wenn mich ein Verhalten einer Freundin verletzt. Sie zeigt sich, wenn ich Missverständnisse nicht anspreche, sondern stillschweigend stehen lasse. Sie zeigt sich, wenn ich meine Persönlichkeit verstecke und mich nicht traue, die Frau zu sein, die ich eigentlich bin. Sie zeigt sich, wenn ich nicht für meine Bedürfnisse einstehe. Sie zeigt sich, wenn ich denke: Was sagen die Leute dazu? Sie zeigt sich, wenn ich in einer Situation passiv bin, obwohl ich weiss, dass ich etwas tun sollte. In all dem steckt die Angst: Was denken die Leute, wenn ich das jetzt tue?
Wieso können wir diese Menschenfurcht nicht einfach aus unserem System kippen?
„Ja, ich sage es noch einmal: Sei mutig und entschlossen! Lass dich nicht einschüchtern und hab keine Angst! Denn ich, der Herr, dein Gott, stehe dir bei, wohin du auch gehst.“ Joshua 1,9
Gott verspricht uns, dass er uns beisteht, wohin wir auch gehen! Ich bin nicht sicher, ob ich das schon so richtig verstanden habe, denn sonst hätte ich mehr Mut gehabt. Doch ich glaube, die Entscheidung, mich nicht einschüchtern zu lassen und mutig das zu tun, was Gott uns sagt, ist nicht eine einmalige Sache. Sie ist immer wieder nötig bei jeder Situation, die Mut erfordert. Wir dürfen Gott bitten, uns die Kraft zu geben, uns für Vertrauen in ihn und gegen die Angst zu entscheiden. Und wir dürfen bei kleinen Dingen anfangen.
Schauen wir uns meine Situation im Bus nochmal an. Was wäre passiert, wenn ich ihr gesagt hätte, dass sie schön ist?
Im schlimmsten Fall hätte sie mich nicht verstanden, mich abgelehnt oder die Leute rundum hätten mich schräg angeschaut. Doch Gott ist auch dann da, liebt mich immer noch und steht mir auch bei, das auszuhalten.
Im besten Fall hätte sie sich gefreut, hätte bemerkt, dass sie gesehen wird von Gott. Es hätte ihrem Selbstbewusstsein gut getan und ihr Hoffnung gegeben. Im besten Fall hätte ihr Mann es gehört und vielleicht wieder neu seine Liebe zu ihr gespürt. Der Teenie hätte verstanden, dass seine Mutter wertvoll und schön ist. So schön, dass eine wildfremde Frau sie darauf anspricht. Und vielleicht hätten sie bemerkt, dass es einen guten Gott gibt. Wenn der Impuls von Gott ist, ist dann nicht die Wahrscheinlichkeit gross, dass der bessere Fall eintritt? Hätte ich mich gefreut, wenn das passiert wäre? Ja! Hätte Gott sich gefreut, wenn das passiert wäre? O ja! Er hätte sich daran gefreut, diese Frau zu ermutigen und er hätte sich gefreut, wenn ich ihm vertraut und mich getraut hätte.
Das Gegenmittel für Menschenfurcht ist Gottesfurcht – zu wissen, dass Gott gross ist, für mich ist und mir beisteht. Je sicherer ich weiss, dass ich Gottes geliebtes Kind bin, desto weniger werden mich unbequeme Situationen stressen. Ich wünsche mir das.
Wie geht es dir? Welche Situationen machen dir Mühe und was wären die Konsequenzen? Ich bete für dich und für mich: «Herr, hilf uns, uns nicht einschüchtern zu lassen, sondern dir zu vertrauen und mutig das Gute zu tun!»